Trauerkreis

Der Segen

Erst seit ein paar Tagen ist der Mann im Spital. Es ist mein erster Besuch bei ihm. Er ist erschüttert, denn seine Krebsdiagnose ist vernichtend. Er wird nicht mehr lange leben. «Wissen Sie, dass ich sterben muss, das ist unvorstellbar bitter. Aber ich glaube, damit werde ich mich abfinden. Was mich aber zur Verzweiflung bringt, ist mein Sohn. Er ist erst zehn. Dass ich ihn seit der Scheidung nicht mehr so häufig sehe, ist schon schlimm genug. Aber jetzt zu wissen, dass ich ihn gar nicht mehr sehen werde, dass ich ihm nichts mehr geben kann, für sein Leben, dass ich ihn nicht erwachsen werden sehe – das zerreisst mich.»

Nun weint er. Wir schweigen lange. Irgendwann im weiteren Gespräch sage ich, es komme mir jetzt ein sehr alter Brauch aus der Welt des Glaubens in den Sinn. In der Bibel sei es oft so, dass ein Vater am Ende seines Lebens seine Söhne segne. Damit gebe er ihnen all den Lebensreichtum, den Gott ihm geschenkt

habe, mit auf den Weg. Seine Weisheit, seine Kraft, seine Hoffnung, sein Vertrauen in die guten Mächte Gottes. Mit dem Segen stelle der Vater die Kinder sozusagen unter die Obhut Gottes. Und gebe sie gleichzeitig aus seinen Händen. Vielleicht – sage ich zu ihm – finde er eine stimmige Art, seinem Sohn den Segen zu mitzugeben.
Der Mann ist berührt. «Ja, sagt er. Das kann ich noch für ihn tun. Und dann können wir auch miteinander reden: Was wir zusammen erlebt haben und was ich ihm wünsche. Ich bin zwar nicht so gläubig, aber das will ich versuchen.»